Samstag, 7. März 2009

Der Altenheim-Report

Der tägliche Marathonlauf

"Um 8.15 Uhr beginnt das Dementenfrühstück. Das heißt, Du musst Frau Schnell, Frau Jelke und Frau Keller in einer Stunde fertig gemacht haben. Du hast heute Gruppe B, das sind die, die gemäß Pflegestufe 2 mehr Arbeit machen. Um 8.30 Uhr verteilst Du das Frühstück und reichst drei Leuten das Essen. Bis zur Pause um 9 Uhr wäschst Du Herrn Muster und Herrn Paul*. Dann richtest Du die Pflegewagen und versorgst die Bettlägrigen - bis 12 Uhr. Dann gehst Du in den Speisesaal, um das Essen auszuteilen." - Der morgendliche Ablauf im Altenheim Sonnenschein* beginnt mit dieser Dienstanweisung.
Reden, füttern und wickeln in Zeitlupe. Alles kein Problem?! Schließlich schreibt der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) genau vor, wieviel Zeit die Pflegeperson, egal ob ungelernter Praktikant oder mehrjährige examinierte Pflegekraft, zur "Grundversorgung" zur Verfügung haben darf. Die Ganzwaschung, die zum Zwecke besserer Durchblutung strengen Regeln folgt, darf 30 Minuten dauern. Trotz einer vorausgegangenen 56-Stundenwoche "kein Problem" für die Pflegekraft - zumal die bettlägrige Frau Keller an die 100 Kilogramm auf die Waage bringt und starke Druckstellen aufweist. So erfordert alleine die Lagerung zehn Minuten, den verzweifelten Versuch eingerechnet, die Schichtleitung auf dem hypermodernen Handy zu erreichen, das gerade mal wieder einen technischen Aussetzer hat. Dann gehen die Einmal-Waschlappen aus, die zur Entfernung von Kot und Urin verwendet werden müssen.
Diese Erfahrung machte eine junge Frau, wir nennen sie Vera, bei ihrem Praktikum in einem Altenheim in der Region. Vermutlich trägt sich das Folgende auch andernorts in zahllosen anderen Pflegeeinrichtungen in ähnlicher Form zu - Tag für Tag. Auch im Weiteren wurden sämtliche Namen von der Redaktion geändert.
Das Absichern der zu pflegenden Person durch Hochsetzen der Bettgitter erfordert noch einmal zwei Minuten, das Rennen zum Pflegewagen und Holen der Waschlappen ebenfalls. Nachdem alles am Platz ist und die zu Pflegende frisch gemacht, das heißt von Exkrementen gesäubert ist, sind immerhin schon grobe 15 Minuten vergangen - ohne dass Gesicht, Hände oder Beine, geschweige denn die Haare, gewaschen sind. Gerade das Letztere ist bei Bettlägrigen ein schwieriges Unterfangen. Schließlich muss die zu Pflegende quer übers Bett gelegt werden, um die Haare in der Waschschüssel, die auf dem Nachtisch steht, waschen zu können - mit dem Risiko, die Person könnte aus dem Bett fallen.

Marathonlauf oder behutsame Pflege?

Schon beginnt für die Pflegekraft der innere Konflikt: Erledige ich die "Angelegenheit" im Hau-Ruck-Verfahren, um die vorgegebene Zeit einzuhalten, oder gehe ich behutsam auf die Bedürfnisse der mir anvertrauten Person ein und riskiere fünf Extra-Minuten? Schließlich beschließt Praktikantin Vera, die erst einen Monat dabei ist, lieber langsam, aber behutsam vorzugehen. Nach 25 Minuten - Vera ist gerade beim Haare föhnen - schneit die Schichtleitung zur Tür herein. "Bist Du immer noch nicht fertig? Um Punkt 12 Uhr müssen die Leute essen und Du musst noch ganze zwei Pflegewagen richten!" Vera beeilt sich also und beschließt, auf die Mundpflege zu verzichten. Zwischen Pflegewagen und Mittagessen wird sie kurz ins Zimmer huschen und dies nachholen.
Gedacht, getan. Das Resultat: "Du hast gefährliche Pflege verübt. Kommt das nochmal vor, stehst Du unter Beobachtung. Schließlich hat unser Haus einen Ruf zu verlieren", so die Schichtleitung. Es folgen Schweißausbrüche in der Nacht und Alpträume. Vera wacht auf, rennt zum Kühlschrank - schließlich muss sie noch die Zwischenmahlzeiten richten, besser jetzt gleich, bevor noch irgendjemand von den Pflegekräften einfällt, sie müsse noch dieses und jenes Bett machen - und dadurch wieder nicht mit der Zeit hinkommt.

Wo bleibt die Zeit für individuelle Bedürfnisse?

Denn der Vorwurf lautet: Klare Zeitüberschreitung. 30 Minuten länger als vorgeschrieben sind einfach zuviel. Das Argument, man habe der anderen Praktikantin unter die Arme greifen wollen, zählt nicht.
"Sylvia muss das machen, was ich ihr aufgetragen habe. Du erledigst Deine Aufgabe in der vorgegebenen Zeit. Egal, ob Frau Ludwig wieder ihre ’fünf Minuten’ oder Probleme beim Aufstehen hat. Wir sind heute nur zu dritt und müssen bis 13 Uhr wie gewohnt fertig sein", so eine der examinierten Pflegekräfte. Ihr blasses Gesicht spricht Bände. Erschöpfung und Resignation sprechen aus ihm. Seit kurzem leidet sie unter Krebs - eine Folge von monatelangem Schichtdienst ohne Ausgleich, sagt sie - schließlich musste man ja fehlende Stunden ausgleichen, ohne zu wissen, wo diese bei zweiwöchentlichem Wochenenddienst herkommen sollen.
Während die fast ausgelernte Pflegeschülerin vor Motivation fast platzt, eine Person nach der anderen "macht" und sogar noch Zeit für ein kurzes Streicheln über die Wange hat, platzt es aus Sylvia heraus.
"Eben hat die Diakonie angerufen. Zehn Minuten nach meiner Schicht hier muss ich noch zwei Leute daheim betreuen. Manchmal könnte ich den Leuten den Kragen rumdrehen. Aber egal, wie sehr ein Bewohner nach Dir schlägt, so wie Frau Schnell, Du darfst Dich nicht wehren. Sonst stehst Du mit einem Bein im Gefängnis."

Ein nettes Wort zur rechten Zeit...

Während Frau Schnell also einen Problemfall darstellt, sehnt sich Frau Berber einfach nach ein wenig Aufmerksamkeit. Mit großen, traurigen Augen sieht sie Vera an. Die nimmt sich zwei Minuten, streicht ihr über den Arm und versucht, sie zu beruhigen. Ein bitterböser Blick verhindert jedoch, dass Vera sich Frau Berber näher zuwenden kann. Also rennt sie weiter in den zweiten Stock, während Frau Ludwig, die es sich mit einem Buch im Gang sitzend gemütlich gemacht hat, nur den Kopf schütteln kann. "Sie müssen immer rennen, das kann doch nicht gesund sein." Die gehbehinderte Frau Pauly hat Angst, Umstände zu machen. "Entschuldigung, dass ich Sie schon wieder rufe, aber ich muss auf die Toilette." Kein Problem, wenn man mal davon absieht, dass Vera noch drei Betten machen muss und für Frau Pauly jeden Tag nur zwei Toilettengänge in ihrer Akte abgezeichnet werden. Dies ist schon der dritte. Als Vera fertig ist, bittet die zweite Praktikantin sie, ihr bei der bettlägrigen Frau Keller zu helfen, das Bett zu überziehen. Als sie fertig sind, bittet eine examinierte Pflegekraft sie, Frau Ludwig das Essen zu reichen. Eine unruhige Handbewegung und die Bluse der Dame ähnelt mehr einer Landkarte aus püriertem Spinat, Kartoffelbrei und Hackfleisch, als dem Accessoire einer gepflegten Erscheinung. Als Vera Frau Ludwig deshalb umzieht, erschrickt sie von einem lauten Ruf: "Was soll denn das? Du solltest schon längst bei Frau Martin sein. Ich verstehe das nicht. Du bist schon so lange hier und wir haben Dir schon einnmal gezeigt, wie man Essen reicht. Lass es jetzt und geh weiter. Ich ziehe sie um."

Sorgfalt und Hygiene oder Zeitmanagement und unpersönliche Anrede?

Passend zu diesem erfolgreichen Tag bemerkt Vera Spuren von Kot auf der Bettdecke der bettlägrigen Frau Agnes. Weil sie zeitlich im Verzug und unsicher ist, ob die geringen Spuren schon das Wechseln des Bettlakens erforderlich machen, ruft sie eine examinierte Pflegefachkraft an. "Quatsch, lass mal. Wir haben keine Zeit, das soll die Nachmittagsschicht machen." Nach weiteren zwei Monaten, die ähnlich ablaufen, wirft Vera das Handtuch. Vielleicht ist es doch besser, sie engagiert sich ehrenamtlich in der Betreuung älterer Menschen. Ein nettes, zusätzliches Wort bringt sicherlich mehr als ein Löffel Brei mehr oder weniger. Der letzte Gedanke, der ihr durch den Kopf schwirrt, bevor sie sich gedanklich von einer hauptberuflichen Tätigkeit in der Altenpflege verabschiedet: "Kann man ein System, in dem Menschen ’gemacht’ werden, noch als menschenwürdig bezeichnen?"
- Dieser Text wurde bei ka-news veröffentlicht (heute zugehörig zum Südkurier). -
*Alle Namen von der Redaktion geändert

1 Kommentar:

  1. ja... ist das noch menschenwürdig... diese Frage stelle ich mir auch nach fast 15 Jahren arbeiten in der Pflege...

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